photos: christof graf
Velvet Underground-Stimmung in Karlsruhe
John Cale eröffnet Deutschland-Tour im Karlsruher TOLLHAUS
Text & Fotos: Prof. Dr. Christof Graf
Fazit 1: Perfekter Tourstart 2023 des Velvet Underground-Mitbegründers John Cale. Fazit 2: Tolle Veranstaltung im Karlsruher Tollhaus. Fazit 3: Respekt vor einem 80jährigen, der sein soeben vollendetes neues Album „Mercy“ kurz vor seinem 81. Lebensjahr (9. März 2023) auch noch live auf die Straße bringt.
Genau das hat John Cale, der einst mit Lou Reed unter Andy Warhols Fittiche die legendären „The Velvet Underground“ 1964 in New York gründete, getan. Am vergangenen Donnerstag holte er die Tournee nach, die er pandemiebedingt seit 2020 immer wieder verschieben musste. Die Zwangspause nutzte er für die Produktion seines neuen Albums mit dem verheißungsvollen Titel „Mercy“.
Provokante Texte über Sadomasochismus, Transvestitismus und Drogensucht wie einst beim Debütalbum von „The Velvet Underground“, das von Andy Warhol nicht nur protegiert, sondern auch produziert wurde, gibt es auf „Mercy“ nicht. Von den darauf enthaltenen 12 Songs des 72-minütigen Albums, stellt John Cale gerade einmal vier in Karlsruhe vor.
Auch keine der „Songs for Drella“ finden beim Tourstart Raum. Diese nahm Cale 1990 als eine Art Hommage über Leben und Werk Andy Warhols in Form eines Musikalbums auf. Zusammen mit Lou Reed zollten sie damit damals dem bedeutendsten Vertreter der US-amerikanischen Pop Art Tribut.
John Cale begann pünktlich um 20.00 Uhr sein exakt 90 Minuten-Konzert mit dem „Titelsong“ des 2006er-Aklbums „Jumbo in tha Modernworld“. Dann folgte mit „Moonstruck (Nico’s Song)“ schon gleich der erste „Mercy“-Song, ein Song als Reminiszenz an die einstige, zwei Jahre nach Gründung von „The Velvet Underground“ zur Band hinzugekommenen deutschen Sängerin „Nico“.
Danach folgten Songs aus dem 60jährigen Künstlerleben John Cales. „Rosegarden Funeral of Sores“ vom „Sabotage/Live“-Album (1998) waren ebenso darunter wie „Wasteland“ vom 2005er „Accetate“-Album oder „Guts“ vom „Slow Dazzle“-Album (1975).
„Half Past France“ vom „Paris 1919“-Album (1973) war ebenso zu hören wie z.B. der finale Song „Villa Albani“ vom 1984er „Caribbean Sunset“-Album.
Dazwischen gab es mit „Mercy“ und „Night Crawling“ zwei weitere Songs vom 17. Studio-Album, das als meisterliches „Spätwerk“ des musikalischen Avantgarde-Musikers und Klang-Collagen-Maestros angesehen werden kann.
Mit „Noise of You” präsentiert John Cale einen musikalischen Liebesbrief. Der Song klingt wie ein Soundtrack zu Bildern von New York, eine Art Liebeserklärung an die Stadt oder an jemand, in den man sich dort verliebt hat. Cales Sprechgesang und Soundcollagen machen den Song zum hörbaren Gedankenfilm, so wie eigentlich alle zwölf Songs dieses Abends klingen.
Das Konzert wirkt wie ein Gesamtkunstwerk. Nur bei einem Song greift Cale zur Gitarre. Sonst steht Cale fast bewegungslos an seinen Keyboards. Er übt sich in einer Art elegischen, manchmal klagenden Sprechgesang. Im Hintergrund sind auf einer Leinwand Video-Installationen zu sehen, die der mal jazzhaften, mal punkingen Rockpoesie im Beatnikstil optisch Profil geben.
Zeitweise fühlt man sich an „The Velvet Underground“-Stimmung erinnert, auch wenn aus jener Zeit keine Songs zu hören sind. Die sphärenhafte Atmosphäre ist dank der neuen ähnlich anmutenden Songs geblieben.
Dark-Night-of-the-Soul-Qualen erleben, Vergangenheitsbewältigung ohne allzu nostalgisch zu werden und Zukunftsängsten kultiviert zu begegnen scheinen John Cales Anliegen im Alter von 80 Jahren zu sein. Stoisch steht er an seiner Tastatur und spricht kaum zum Publikum. Hin und wieder kündigt er den nächsten Song an oder bedankt sich kurz. Seine distanzierte Haltung wirkt wie Altersgnade auf der noch immer steten Suche nach Neuem, was letztendlich die Mystik der einstigen „Velvet Underground“ und des heutigen John Cale ausmacht.
Auch wenn das Schwelgen von Weltschmerz, das Suhlen in Zerbrechlichkeit, das scheinbare Sehnen nach bizarren Vorlieben und die Erkenntnis über die Endlichkeit John Cales Zeitgeist bestimmen, weiß er damit sein Publikum in Bann zu ziehen.
Nach exakt 90 Minuten ist Schluss mit dem Spähren-Theater. Die Hoffnung auf eine Zugabe, womöglich in Form der einstigen Coverversion von Leonard Cohens „Hallelujah“ oder tatsächlich noch auf ein „Venus in Furs“ stirbt fast in einem fast zehnminmütigen Klatschen eines vollends begeisterten Publikums.
Mit der Zugabe von Elvis Presleys „Heartbreak Hotel“ kommt John Cale mit seinen drei Begleitmusikern, die zumeist im Schatten des Maestros im Dunkel des Bühnenhintergrundes agierten, für einen letzten Song zurück in das Rampenlicht. Danach ist wirklich Schluss mit dem Dunkel-Theater der Tiefgründigkeit.
The band:
John Cale: vocals, guitar, keyboards
Dustin Boyer: lead guitar, samples
Joey Maramba: bass
Alex Thomas: drums, synths
Setlist: