Eine andere Seite von Leonard Cohen
Anton Jakob Weinberger, Vorsitzender Max Dienemann / Salomon Formstecher Gesellschaft
Auszug aus der Begrüßungsrede, gehalten am 18. November, »Offenbacher Lesungen / Literatur im O-Ton«, Alte Schlosserei
© Anton Jakob Weinberger
„… Wir haben als Max Dienemann / Salomon Formstecher Gesellschaft für unsere Hommage an den jüdisch-kanadischen Dichter den Titel gewählt: »Eine andere Seite von Leonard Cohen«. Die »andere Seite« ist durchzogen von dem jüdischen Faden, der sich durch Cohens gesamtes literarisches und musikalisches Werk schlängelt. Mal zeigt Cohen diesen jüdischen Faden, mal verbirgt er ihn unter Metaphern, Mythen und Masken, mal scheint er diesen Faden zu zerschneiden.
Aus meiner Sicht ist Leonard Cohen ein origineller Denker, der in der Tradition des jüdischen Skeptizismus steht. In seinem Zweifel, seiner Widersprüchlichkeit, seinem Ausgreifen in eine geistig fremde Umgebung ─ wir denken an seine Zeit als Mönch im buddhistischen Zen-Kloster »Mount Baldy« in Kalifornien ─ gleicht Leonard Cohen einem der Großen im jüdischen Geistesleben, »Kohelet«. Christen ist »Kohelet« aus dem ersten, dem jüdischen Teil des »Neuen Testaments«, unter dem Namen »Prediger/Versammler« bekannt. Wie Kohelet war Cohen beides: skeptisch und gläubig.
Klar wird Cohens Verwurzelung in der jüdischen Kultur und sein unabhängiger, zum Widerspruch neigender Geist bei einem Song wie »Who By Fire«, der auf das Gebet »Unetane tokef keduschat hajom« (ins Deutsche übersetzt: »Wir verkünden die gewaltige Heiligkeit des Tages«) gründet, welches Juden an »Rosch Haschana«, dem Neujahrsfest, und an »Jom Kippur«, dem bald darauf folgenden Versöhnungstag, in der Synagoge sprechen.
Cohen greift nahezu wörtlich wichtige Verse dieses in der heute üblichen Fassung wohl aus dem 11. Jahrhundert stammenden Gebetes auf und fügt ihnen moderne Sentenzen poetisch hinzu. Das Gebet und ebenso Cohens Song handeln von den Arten des Todes, die ein Mensch in dem gerade begonnenen neuen jüdischen Jahr erleiden könnte. Cohens aus kritischem Geist erwachsende Pointe gipfelt in der wiederkehrenden Frage: »And who shall I say is calling?« Wer also ordnet jedem Menschen seine Todesart zu? Es ist dies die Frage nach Gott, dessen Wirken in der Welt und seine Verantwortung gegenüber dem Menschen.
Ein weiteres Beispiel ist der Song »Dance Me To The End Of Love«. Cohen hat darin den für uns Nachgeborene kaum vorstellbaren Umstand aufgegriffen, dass in etlichen Vernichtungslagern Juden zu Klängen klassischer Musik in die Gaskammern getrieben wurden und ihre Körper bald schon in den Krematorien als Rauch aufgingen. Der Eingangsvers dieses Songs zeugt von diesem Wissen des Dichters: »Dance me to your beauty with a burning violin.« Eine letzte Verneigung vor der Schönheit der Frau, die er liebt, bei dem Tanz auf den Weg in die Gaskammer, den eine Violine begleitet, die brennt ─ wie die Leiber der in den KZs Ermordeten.
Zuletzt: das als Cohens Vermächtnis geltende Lied »You Want It Darker«. Der Dichter greift darin aus der Tora, der Hebräischen Bibel, die Erzählung der »Bindung Isaaks«, wie es in jüdischer Lesart heißt, auf, da Abraham seinen Sohn nicht opferte. Dreimal sagt Abraham in dieser Erzählung zu Gott »Hineni«, »Hier bin ich«. Abraham ist bereit, der ungeheuerlichen Forderung Gottes zu folgen, doch Gott verzichtet nach dieser Prüfung auf die Opferung des Isaaks. Indem Cohen gerade diesen jüdischen Mythos kurz vor seinem Tod in einem Lied für sich ergreift und in seiner Interpretation, begleitet vom Synagogenchor und dem Kantor seiner Montrealer Gemeinde, aufgenommen hat, markiert die Haltung zu seiner Existenz als Jude.
Cohen war zeitlebens eng mit der jüdischen Gemeinde »Schaar Ha-Schomajim«, zu Deutsch »Tor zum Himmel«, in Montreal verbunden, die seine Familie im 19. Jahrhundert mitgegründet und über viele Jahrzehnte geprägt hat. Cohen wurde seinem Wunsch gemäß auf dem Friedhof dieser Gemeinde im Familiengrab beerdigt.
Unser Programm zu Ehren Leonard Cohens verknüpft unterschiedliche literarische Genres, in denen sich der Dichter geäußert hat: Lieder und Lyrik, Psalmen und Prosa, verzahnt mit einer besonderen musikalischen Interpretation seiner Songs.
Dass das Gedicht »Kleiner Wiener Walzer« von Federico García Lorca zu unserem Programm gehören muss, steht außer Frage. Der spanische, von den Franco-Faschisten ermordete Dichter, gab für Cohen in dessen Jugend den Anstoß, sich der Dichtung zuzuwenden und selbst zu schreiben. Cohen hat sein Leben lang Federico García Lorca für diesen Impuls gedankt. Cohen nannte seine Tochter nach dem spanischen Dichter: Lorca. Und Cohen schuf eine wunderbare englische Version des erwähnten Lorca-Gedichts: »Take This Waltz«.
Hören Sie nun was Christof Graf, Cohens emsiger deutscher Biograph, über seine Begegnung und jahrelange Freundschaft mit dem Dichter zu erzählen hat.
Freuen wir uns auf die Rezitation der Werke und autobiographischen Äußerungen Leonard Cohens, vorgetragen von Hanns Zischler, des international renommierten, ebenso expressiven wie lakonischen Schauspielers.
Begrüßen Sie mit uns Perla Batalla, die amerikanische Sängerin, die 1988 und 1993 mit Cohen auf Welttournee war, und die stolz ist auf ihre familiären mexikanisch-argentinischen Wurzeln ─ was heutzutage nicht jedermann in den Vereinigten Staaten goutieren dürfte. Es sind nicht zuletzt diese kulturellen Wurzeln, die Perla Batalla und ihre Musiker ─ Lluis Cartes, Marc Prat und Manu Corbalán Carillo ─ bei unserer »Hommage an Leonard Cohen« zum Klingen bringen werden, ein Erbe, das der kanadisch-jüdische Dichter schätzte. Wir erachten es als eine Ehre, dass Perla Batalla bei uns heute Abend auftritt ─ erstmals nach 25 Jahren wieder in Deutschland. …“