KW-34-2019: LOOKING FOR BOB DYLAN (von Michael Brenner) – Ein Traum von einem Buch, wenn man Dylan, Deutschland und den Geist der 60er Jahre ergründen möchte.

Looking for Bob Dylan: Bob Dylan, Zeitgeschichte & Zeitgeist Vol I: Krieg der Generationen

… ein Traum von einem Buch …

 

Im Umfeld der nostalgischen Berichterstattung um das 50. Jubiläum des „Love, Peace & Music“-Festival Woodstock tobten sich die Feuilletonisten/innen und Kulturredakteure/innen in Er- und Verklärungsversuchen aus. Es ging ihnen vielfach um den Mythos von Woodstock und derer Protagonisten. Manche versuchten sogar den „Geist der 60er Jahre“ in ihrer nostlagischen Zeitreise auf dem Papier (oder Bildschirm) einzufangen und auch diesen gleich noch mit zu er- und verklären.

Michael Brenner geht da ganz anders vor, wenn er die 60er und die jeweilige Dekade davor und danach beschreibt. Er schreibt in seinem knapp 300 Seiten Buch, was für ihn diese derzeit so viel beachtete Zeit ausmacht, was ihn damals umgab und wovon er sich beeindrucken und sozialisieren ließ: Populäre Musik. Er schreibt aber auch über den, der für diese „populäre Musik“ zur damaligen Zeit stand: Bob Dylan.

Was Michael Brenner mit dieser Vorgehensweise gelingt, ist eine  Zeitreise durch die Sechziger und Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, ohne nostalgisch zu klingen oder zu werden. Das spanndende dabei ist, wie er dabei zum einen, das Leben und Wirken von Bob Dylan und zum anderen die Geschehnisse in den 60ern, also zu Beginn von Dylans Karriere in den USA und Deutschland mit seiner eigenen Biographie, verknüpft und beschreibt. Resultat ist nicht nur der individuelle Rückblick in die eigene Zeitgeschichte, sondern auch ein solcher in die von Bob Dylan. 

Brenner schreibt von sich, ja. Aber nie ohne sich dabei in den Mittelpunkt zu stellen. Im Mittelpunkt steht Dylan und die Zeit, erzählt von einem, der zufällig in einer ähnlichen Zeit geboren wurde, wie Dylan und die Zeit miterlebt hat. Brenner schreibt auch über den „Krieg der Generationen“, in dem sich die „Gegner“ nie verstanden. Brenner erklärt warum.

Danke für dieses Buch. Ich habe lange nicht mehr ein so gutes Buch über Bob Dylan gelesen. Es gibt ja sehr viele Dylanologen, die gerne Dylan er- und verklären. Den Eindruck hat man bei Michal Brenners Buch nie, im Gegenteil, Er schafft es, neue Blickwinkel zu eröffnen.
„Was mir an Ihrem Buch auch sehr gut gefällt, sind Ihre Selbst-Bezüge, die nie aufdringlich oder zu „Ich-Bezogen“ daherkommen“, schrieb ich in einer Art „Dankes-Mail an den Autor. „Wofür ich auch ganz persönlich danke: Sie erklären mir das Jahrzehnt – die 60er – in dem ich zwar geborebn wurde (1963), das mir aber nicht mehr wirklich präsent ist, bis auf die Tatsache, daß ich mit meinem Opa vor einem Schwarz-Weiß-Fernseher saß, die Mondlandung sah. Darüber hinaus erläutern sie auch sehr beispielhaft – und auch ohne sich als Autor mit zu viel „Ich“ einzubringen, was und wie die 60er jahre waren, sowohl in den USA, in Bezug auf Dylan wie auch in Deutschland.
 
Ich muß gestehen, ich bin erst 1978 bei Dylan eingestiegen, war damals auch in Nürnberg. Die frühen Sachen haben mir nie so richtig gut gefallen, ich fand „Desire“ und „Street Legal“ und auch das „Budokan“-Album Klasse. Die 60er Alben arbeitete ich erst viel später auf. Und ja, ich bin auch einer, der über Cohen zu Dylan kam. Man sagt ja, Dylan-Fans mögen Cohen und Cohen-Fans mögen auch Dylan. Nun, für mich sind beide die zwei Wort- und Liedschmiede der Populären Musik schlechthin. –
Sie offerieren Textinterpretation, geschichtliche und gesellschaftliche Zusammenhänge und Hintergrundinformationen. Darüber hiaus lassen Sie auch Dylan mit Zitaten selbst zu Wort kommen, was das Verständnis von Leben und Werk Bob Dylans enorm vereinfacht. – Dylan haben Sie mir mit Ihrem Buch noch näher gebracht. Allein dafür Dank. Ich bin sehr gespannt auf den zweiten Band.

 

Zitate

die freundlicherweise vom Autor, Michael Brenner zur Veröffentlichung freigegeben wurden:

Zitate 1: Introduction

….  Ich wurde 1951 geboren. Meine Kindheit und Jugend verbrachte ich in dem trostlosen westdeutschen Nachkriegsland, in der materiellen Not und der menschlichen Dürre nach dem Nationalsozialismus. Mein Vater hatte in Hitlers Wehrmacht gekämpft und war psychisch krank. Meine Mutter, ein verletztes junges Mädchen, das Schlimmes erlebt hatte. Wer die Hölle auf Erden suchte, fand sie in den traumatisierten Familien Deutschlands nach 1945 so wie ich in meiner.

Doch mit den 1960ern begann für Jüngere die gefühlte Befreiung. Mit den Songs der Beatles und Rolling Stones, mit langen Haaren, kurzen Röcken und der sexuellen Revolution. Die laute Beatmusik veränderte auch meine kleine Welt wie Licht die Dunkelheit. Dann öffnete Bob Dylan die Tür zu den Sternen. Er konnte über das singen, was ich mich nicht einmal traute zu denken.

Seine Lieder verkündeten Protest gegen die Verhältnisse und Träume einer besseren Welt. The purpose of Art is to inspire hat er einmal gesagt. Das tat er. Wie kein anderer Künstler verbreitete Bob Dylan mit seiner Musik soziale und politische Inhalte. Mit Siebzehn entdeckte ich ihn, danach war mein Leben nicht mehr dasselbe. Tag und Nacht lauschte ich seinen Songs.

Er wirkte wie eine Droge, die mich und meinen Blick auf die Realität veränderte. The times they are a-changin’ und Blowin’ in the wind stehen heute in Geschichtsbüchern. Masters of war, die wütende und aggressive Anklage gegen Militär und Kriegstreiber, kann als ein Meilenstein der Zivilisation gesehen werden. Später dann verdichtete er mit Like a rolling stone die Gefühlswelt der Jüngeren zu einem einzigen genialen Song, der alles erklärte.

Ohne Bob Dylan wären die 1960er nicht die Sechziger gewesen. Heftig und unumkehrbar veränderten die Jüngeren die Welt. Sie führten zu einem gesellschaftlichen Wandel, der die westlichen Werte und Lebensweisen bis in die Gegenwart bestimmt. Frühreif machte ich bei politischen Aktivitäten mit und ließ mich mit Lenin, Marx und Mao schulen. Bei Demonstrationen warf ich Steine auf Polizisten, gegen den schmutzigen Krieg in Vietnam, gegen Napalm und Agent Orange auf Kinder, gegen den Bundeskanzler mit der Nazi-Vergangenheit, gegen meine Wut und Leere, gegen die Welt, wie sie war. Manchmal stahlen wir dem Schulverein etwas Geld und schickten es dem Vietcong für den Kampf um sein Land. Mit siebzehn saß ich eine Nacht im Gefängnis. Ich war jung, schrie herum wie alle anderen und glaubte, wir würden gewinnen.

Unausweichlich musste ein Junge wie ich auf Bob Dylan treffen. Seine Songs begleiteten mich wie ein guter Freund oder ein älterer Bruder, er stand mir näher als meine Eltern. Doch wer ist Bob Dylan? Nur die Projektionsfläche meiner jugendlichen Hoffnungen und Träume? Sänger und Musiker oder Erlöser? Ein Poet? Ein Aktivist für Frieden und Humanität? Oder ein politischer Akteur oder Prophet? Ein musikalischer Pilger oder gar Revolutionär? Ein Feldherr mit Songs als Waffen? Eine Illusion?

Zitate 2: The art of Bob Dylan

Wer hätte sich, bevor es ihn tatsächlich gab, in den 1950ern einen Jungen vorstellen können, der sich mit einer Gitarre und Mundharmonika vor Zehntausende stellt und singt, dass die Welt nicht in Ordnung sei? Wer hätte darüber hinaus noch denken können, dass dieser Junge von seiner Generation dafür auf fast religiöse Weise verstanden, verehrt und geliebt wird? Und wer hätte, bevor es tatsächlich geschah, auch nur ahnen können, dass Millionen und Abermillionen Heranwachsende kollektiv aufhören könnten, an das zu glauben, was ihnen Eltern, Politiker und die Kirchen über das menschliche Zusammenleben und Dasein erzählen?

Was in der weiteren Entwicklung zum Kampf für Bürgerrechte und Gleichberechtigung des afroamerikanischen Bevölkerungsteils, zum Widerstand gegen den Vietnamkrieg, zur sexuellen Revolution, zu den Hippies, zur spirituellen Bewegung oder zur Befreiung der Frauen in der Jugendrevolte der 1960er führen sollte, hatte wichtige Wurzeln in der Hinwendung zur Folkmusik der frühen 1960er. Sie stand für menschliche Ideale, gesellschaftlichen Fortschritt und die Träume einer besseren Zukunft.

….  Im Mai 1963 brachte er mit The freewheelin’ Bob Dylan sein nächstes Album heraus, dann im Januar 1964 ein weiteres, The times they are a-changin’. Es wurden zwei Platten, die heute als Meisterwerke und Kulturdenkmäler gelten. Auf ihnen verdichtete er das gesellschaftliche Klima seiner Zeit zu archetypischen Liedern und politischen Protestsongs. Sie erzählten von Armut und Unrecht, von Rassismus, Unterdrückung und sozialer Ungerechtigkeit. Das Bild eines Albtraum-Amerikas, eines tief gespaltenen Landes im Umbruch. Klar und kraftvoll sprach Bob über den Zustand der Welt, in einer Weise, wie es noch nie jemand vorher getan hatte. Seine Worte und Songs wirkten wie Ohrfeigen gegen den Zustand dieser Welt, vielschichtiger und tiefer als die anderer Sänger. Bob Dylan und seine Musik standen für etwas radikal Neues.

….  Menschliche Geschichte ist die Geschichte von Wachstum und Veränderungen. Zu Anfang der sechziger Jahre hatte in Amerika das intensive Jahrzehnt von sozialem Aufruhr und Umbruch begonnen. Eines der politischen Schlachtfelder war der Kampf der Afroamerikaner für Bürgerrechte in den vom Rassismus geprägten Bundesstaaten des Südens. Ein anderes der Kalte Krieg und die allgegenwärtige Gefahr des Weltuntergangs. Bob schrieb über diese Themen und bezeichnete seine Songs als zeitgenössisch.

Wie intuitiv konnte er das skeptische Lebensgefühl der Heranwachsenden in Worte pressen und die latente Stimmung nach gesellschaftlicher Erneuerung fokussieren. Bob war derjenige, dem es in großer Tiefe gelang, Gedanken und Gefühlen zur Realität auszusprechen. So erreichte und bewegte er sein Publikum wie kaum ein anderer. Wie besessenen schrieb er Songs, die wie Befindlichkeitsmeldungen seiner Seele und wie soziale Berichterstattung über den Zustand Amerikas und der Welt klangen. Seine Worte hörten sich brennend aktuell und einhundert Jahre alt zugleich an.

In vielen seiner Lieder agierte Bob politisch, jedoch nicht mit einfachen Parolen, Schlagworten oder Forderungen, also nicht mit denjenigen Verhaltensweisen, mit denen Politiker üblicher-weise zur Macht streben, sondern in Form von poetisch-musikalischen Stimmungsbildern. Aber sie wirkten weitaus mächtiger und bewusstseinsverändernder als jede tagespolitische Parole es gekonnt hätte.

Das Faszinierende, das, was die Menschen anfixte, waren seine Worte, seine Beschreibungen von gesellschaftlicher Realität. Textzeilen, Sprachbilder und Begriffe wie Don’t think twice, Hard rain oder Blowin’ in the wind lösten sich nach kurzer Zeit von seinen Songs und wurden im Weltbild und im Wortschatz unzähliger Jugendlicher zu selbstverständlichen Synonymen von Gefühlen und Lebensumständen, wie eingebrannt im Bewusstsein seiner Generation.

Zunehmend verbreitete sich unter Jüngeren eine wachsende Distanz und Rebellion gegen die Welt wie sie war. Neue Wertvorstellungen und Lebensstile kamen auf. Folk- und Protestmusik wurde zum wichtigen Ausdrucksmittel des stetig wachsenden Unbehagens gegenüber Werten und Lebensweise der Elterngeneration, der etablierten Kultur und den politischen Zuständen. Schon bald sollte die Entwicklung in dem Wort Protest münden. Nach kurzer Zeit galten Bob-Dylan-Songs als Ausdruck des politischen Erwachens seiner Generation.

….  Unübersehbar zog er große Zuneigung auf sich. Auf der Bühne wirkte er lebendig und charmant, vor allem wenn er mit seinem Publikum redete, so als ob er mit ihm flirtete. Mit seiner Hingabe an die Musik, den Geschichten, die er erzählte und mit seinen brillanten Songs erschien er wie eine Mischung aus Huckleberry Finn, Charlie Chaplin und einem herumstreunenden Straßenköter, so als müsse man ihn knuddeln und als kostbar beschützen.

….  Der Song Only a pawn in their game erscheint als tiefsinnige und brillante Analyse zum Mechanismus der gesellschaftlichen Macht und Unterdrückung im Allgemeinen und zum Rassismus im Besonderen. Selbst der Ärmste unter den allerschlimmsten Lebensbedingungen benötigt noch ein Feindbild, also jemanden, auf den auch er herabsehen kann, weil er sich sonst gegen die Verhältnisse wehren würde und damit die Macht der Mächtigen gefährden könnte. Sonst wäre es ja egal, wie es ihm ergeht. And the poor white remains […] But it ain’t him to blame. He’s only a pawn in their game. [1]

Treffende Worte und aktuell bis in die Gegenwart, betrachtet man diejenigen, die einen Donald Trump zum Präsidenten gewählt oder in Großbritannien für den Brexit gestimmt haben, sich von der Europäischen Union abwenden oder in EU-Europa rechten Parteien hinterherlaufen. Wahlentscheidungen und Trotz gegen politisches Versagen und Realitätsverlust. Individuell vielleicht nachvollziehbar, aber eben nur als Reaktion auf Symptome und Fehlentwicklungen der etablierten Herrschaftsstrukturen statt eine lösungsorientierte Reaktion auf Ursachen. Die gesellschaftlichen Verlierer, the poor white men, sind nur Bauern im Schachspiel der Mächtigen. Sie sind, so Bobs klare Sichtweise, lediglich Looser, mit der Bestimmung, politisch missbraucht zu werden. In diesem Lied wird der Mechanismus der Macht brillant formuliert. Only a pawn in their game, vielleicht einer der größten antifaschistischen Songs aller Zeiten.

….  Auf dem Weg von Robert Zimmerman zu Bob Dylan hatte er in sich etwas geahnt, von dem andere sich nicht einmal vorstellen konnten, dass es überhaupt existierte. Er glaubte an sich und seine Visionen, bis er schließlich den Platz an der Spitze erreichte. Er war der herausragende Folklore- und Protestsänger geworden, angekommen im Olymp der Götter.

Zitate 3: Bob Dylan

….  Menschen können sich nicht aussuchen, wo und zu welchem Zeitpunkt der Geschichte sie geboren werden. Sie sind nur Reisende, die für die kurze Zeitspanne ihres Lebens anwesend sind. In späteren Jahrhunderten, wenn es sie dann gibt, werden Menschen sich vielleicht fragen, wie war es, in den 1960ern dabei gewesen zu sein? Wie war es, den Kalten Krieg, die Kuba-Krise und den Krieg in Vietnam zu erleben, die Concorde und die Mondlandungen, die Beatles und Bob Dylan?

….  Ein Zeitzeuge, einer seiner frühen Mitschüler, erinnert Bob als ein eher stilles und scheues Kind. Jahre später beschreibt ihn der Englischlehrer seiner Highschool als ein loner und introverted, als einen Jugendlichen, der interessiert war und viel nachgedacht hat.[2] Offensichtlich war Bob nicht jemand, der im Mittelpunkt stand. In dem Haus, das seine Eltern in Hibbing gekauft hatten, fand er eine Gitarre und begann sie zu erlernen. Ebenso beschäftigte er sich mit dem Klavierspiel.

….  Auf der Highschool freundete er sich im Frühjahr 1958 mit Marvel Echo Star Helstrom an, meist Echo genannt. Bobs Highschool-sweetheart. Nach Beschreibungen von Dylan-Biografen soll sie ein cooles weltoffenes Mädchen gewesen sein: Helstrom, a free-spirited blonde from a less-affluent section of town than the Zimmerman family, wird sie von Wikipedia dargestellt. Offenbar war Echo anders als die große Mehrheit ihrer Geschlechtsgenossinnen im engen und kleinstädtischen Hibbing. Für die damaligen Verhältnisse verkörperte sie Außenseitertum und Rebellion. Bob muss von ihr fasziniert gewesen sein. In der konservativen Welt der fünfziger Jahre galten weibliche Wesen als minderwertig und waren in rigide gesellschaftliche Konventionen und umfassende Strukturen realer Unterdrückung eingesperrt. Frauen galten als Beifang und dienten der Verschönerung des männlichen Lebens.

….  Echo beschrieb ihre Herkunft als from the other side of the tracks, sie lebte in anderen Verhältnissen als Robert, der Mittelschichtsjunge. He was rich folk and we were poor folk. […] He was Jewish and we were German, Swedish, Russian, and Irish, all mixed together.[3]

Offenbar verband beide eine gemeinsame Weltsicht. Both Echo and Bob seemed so sorry for the working people. Bob’s brother, David Zimmerman, told [the autor] Shelton: ‘Bobby always went with the daughters of miners, farmers, and workers. He just found them a lot more interesting.’[4]

….  Bob träumte intensiv davon, aus seiner familiären Umgebung herauszukommen und ein komplett anderes Leben zu führen. Nicht ungewöhnlich, denn jugendliche Gedanken von Entfremdung, und Träume eines alternativen Daseins in anderen Realitäten sind nicht selten. In kranken und zerstörerischen Familiensystemen gelten Abnabelung und Ausbruch als gesunde, manchmal auch lebensrettende Verhaltensweisen. Doch solche Umstände waren bei ihm nicht gegeben, selbst wenn seine Fantasien, in eine andere Gestalt schlüpfen zu wollen, offenbar stark ausgeprägt waren, wenn er über seine Jugend sagt: Die Musik gab mir das Gefühl jemand anders zu sein, […] manchmal werden Menschen mit dem falschen Namen in der falschen Familie geboren.[5]

Tatsächlich lebte Bob in einer freundlichen familiären Umgebung. Hinweise auf eine unglückliche Kindheit, mangelnde Zuneigung oder gar ungewöhnliche Konflikte lassen sich nicht erkennen. Er hatte ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern, wobei er seiner Mutter nähergestanden haben soll als seinem Vater. Die typischen Fragen, die während der Pubertät in den Köpfen von Heranwachsenden herumwirbeln, werden auch ihn beschäftigt haben. Wie funktioniert die Welt? Was gibt es zu entdecken? Wer bin ich? Was will ich vom Leben?

 

Zitate 4:  Kalter Krieg

The rooms were so much colder then. My father was a soldier then. And times were very hard. When I was young, when I was young. Treffende Worte aus dem Song When I was young von 1967 des englischen Rock- und Bluesmusikers Eric Burdon, geboren 1941.  ….  How does it feel, how does it feel? Der Refrain aus dem Song Like a Rolling Stone von Bob Dylan. Keine Frage nach der Befindlichkeit, sondern Wut über die Verhältnisse.

….  Nie wurden die endlosen Jahre des Kalten Kriegs treffender beschrieben als in Bobs Song A hard rain’s a-gonna fall, einem Denkmal für die Ewigkeit, vergleichbar dem Guernica-Gemälde von Pablo Picasso oder dem Gedicht The Waste Land von T.S. Eliot.

I heard the sound of a thunder, it roared out a warnin’. Heard the roar of a wave that could drown the whole world. Heard one person starve, I heard many people laughin’. Große Poesie. Heard the song of a poet who died in the gutter, heard the sound of a clown who cried in the alley. […] Where hunger is ugly, where the souls are forgotten. Where black is the color, where none is the number and Ill tell it and speak it and think it and breathe it. And reflect from the mountains so all souls can see it.[6] Tiefe und unglaubliche Worte, ein Grund stolz zu sein, zur Menschheit zu gehören.

Die Zeiger der Doomsday Clock, des symbolischen Count down zum Weltuntergang, zeigten den Ernst der Lage. Es war wenige Minuten vor Zwölf für die Menschheit.[7] Ohne Zweifel stand der Big Bang bevor. Dem jungen Robert Zimmerman wurde in der Schule gesagt, er solle beim nuklearen Angriff der Russen unter einen Tisch kriechen und immer darauf vorbereitet sein, dass russische Fallschirmjäger über Hibbing, Minnesota, abspringen könnten. Nach Schätzungen sollen im Kalten Krieg in den USA mehr als zweihunderttausend Atomschutzbunker entstanden sein. Eine gigantische Vernichtung von Volksvermögen, das man im Kampf gegen Armut und Unrecht hätte besser einsetzen können.

In Westdeutschland wurde Kindern verkündet, die Russen würden ihnen Brot und Zahnbürsten wegnehmen. Während der Schulzeit fanden regelmäßig Alarmübungen statt, bei denen die Sirenen auf den Dächern von Schulen und öffentlichen Gebäuden aufheulten und die Kinder schnell die Klassenzimmer verlassen mussten. Doch bis sich alle auf dem Schulhof versammelt hätten, wären sie längst zu radioaktivem Staub pulverisiert worden. In einem oft belachten Heftchen der Regierung stand, dass es bei einem Atomangriff helfen würde, die Aktentasche über den Kopf zu halten oder in den Keller zu gehen. Beschwichtigung, Propaganda, Lügen und Fake. Kindern und Jugendlichen hinter dem Eisernen Vorhang wurde ähnliches erzählt. Der Feind war immer der andere.

Wirkliche Schutzmaßnahmen gab es keine. Die aufsteigenden Atompilze hätten innerhalb weniger Minuten große Teile der Zivilisation unwiderruflich ausgelöscht. Umfassende ideologische Beeinflussung und Desinformation galten als wichtige Waffen im Kalten Krieg, nicht viel anders als in den Kriegen der Gegenwart, lediglich die Methoden haben sich geändert.

….  Als Bob in Greenwich Village lebte, wurden auf der Madison Avenue, New Yorks Prachtstraße, kleine Schutzbunker verkauft, die Fallout Shelter, denn in jedem Augenblick konnte der Weltuntergang beginnen.

…. Viele Jahrzehnte galt Hard rain als ein Synonym der nuklearen Vernichtung. Später schien der Refrain auf den sauren Regen und die menschgemachten Katastrophen des Klimawandels zu passen. Und wenn man möchte, lassen sich die Bilder des Songs auch auf die heutigen Irrwege in Politik und Gesellschaft anwenden.

….  Mit der atomaren Bedrohung und dem Tod im Weltuntergang beschäftigten sich viele Künstler, nicht nur Bob Dylan. Mit stetigem Anwachsen der jugendlichen Gegenkultur griffen immer mehr Songs diese Themen auf. Vermutlich keiner so spektakulär und mit so heftigen Reaktionen wie Eve of destruction, im Sommer 1965 gesungen von Barry McGuire.[8] Ein Song, der für seine politische Lyrik große Beachtung fand und sich weltweit über die Hitparaden ausbreitete. Ein Nummer-eins-Hit, der die Uhrzeit der Doomsday Clock verkündete. Ein unglaublicher Vorgang, ein musikalisches Pearl Harbor für das Establishment und seine Darstellung gesellschaftlicher Realität. Eve of destruction vermittelte ein betörendes Bild der Endzeitstimmung, die viele empfanden.

Was mit Bob Dylan und seinen Protestsongs begann wurde schnell zum Allgemeingut. Immer mehr Beat- und, wie es dann später hieß, Popsongs vermittelten ein gesellschaftskritisches Weltbild, weil sich zunehmend mehr Künstler nun trauten, offen und ohne Angst vor politischer Zensur über die Realität zu singen. Der unbefriedigende Status quo, die Bedrohung der menschlichen Existenz und die Herrschaft der Kriegsstrategen wurden aus den Hinterzimmern der Macht in die Öffentlichkeit gezerrt. Sich gegen die Verhältnisse zu wehren wurde zum Zeitgeist.

Immer mehr Beat- und, wie es dann später hieß, Popsongs vermittelten ein gesellschaftskritisches Weltbild, weil sich zunehmend mehr Künstler nun trauten, offen und ohne Angst vor politischer Zensur über die Realität zu singen. Der unbefriedigende Status quo, die Bedrohung der menschlichen Existenz und die Herrschaft der Kriegsstrategen wurden aus den Hinterzimmern der Macht in die Öffentlichkeit gezerrt. Sich gegen die Verhältnisse zu wehren wurde zum Zeitgeist.

….   Nie wurden die endlosen Jahre des Kalten Kriegs treffender beschrieben als in Bobs Song A hard rain’s a-gonna fall, einem Denkmal für die Ewigkeit, vergleichbar dem Guernica-Gemälde von Pablo Picasso oder dem Gedicht The Waste Land von T.S. Eliot.

I heard the sound of a thunder, it roared out a warnin’. Heard the roar of a wave that could drown the whole world. Heard one person starve, I heard many people laughin’. Große Poesie. Heard the song of a poet who died in the gutter, heard the sound of a clown who cried in the alley. […] Where hunger is ugly, where the souls are forgotten. Where black is the color, where none is the number and Ill tell it and speak it and think it and breathe it. And reflect from the mountains so all souls can see it.[9] Tiefe und unglaubliche Worte, ein Grund stolz zu sein, zur Menschheit zu gehören.

Zitate 5: Krieg der Generationen

Bob Dylan (….) gilt nicht nur als einer der wichtigsten Musiker des 20. Jahrhunderts, sondern war in den 1960ern auch Stimme und Gesicht der sozialen und politischen Revolte der Jugend. Zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte rebellierte eine ganze Generation gegen die Welt ihrer Eltern.

Aus sozialpsychologischer Sicht ermöglichten seine Protest-Songs und seine Person in einer noch nie dagewesenen Weise Identifizierung und Projektion zugleich. Folgt man C.G. Jung und seinen psychologischen Vorstellungen, dass es so etwas wie die kollektiven Mythen einer Generation gibt, dann hatte Bob intuitiv den Weg dorthin gefunden. Es war, als könne er das Unbewusste seiner Generation ans Tageslicht zerren und es aussprechen. Wie ein Pablo Picasso oder ein Salvador Dalí drang er in neue Dimensionen von Bewusstsein, Identität und Tiefe vor. I was in a certain arena artistically that no one else had ever been in before ever, sagt er in No Direction Home.

Schnell wurde Bob für unzählige Jüngere zu einem Freund, zu jemandem, dem man zuhört, weil er etwas zu sagen hat. ….  In der politischen Realität der frühen 1960er galten seine Songs als massive Tabubrüche, für seine Zuhörer wirkten sie aufregend revolutionär, wenn er über Rassenungleichheit und soziales Unrecht sang, über Militär und Kriegsgewinnler, über den kommenden Dritten Weltkrieg und das Sterben im nuklearen Weltuntergang. ….  Er traute sich an Themen, über die in den Medien und in der populären Musik Amerikas bis dahin nicht einmal geflüstert wurde. In nur kurzer Zeit hatte er sich von einem der vielen Folkmusiker zu dem herausragenden und weltbekannten Protestsänger entwickelt. Wie nebenbei legte er damit auch die kulturellen Wurzeln der sich anbahnenden weltweiten Jugendrebellion der späten Sechziger. Über die gesamte westliche Kultur verbreiteten sich seine Lieder, sie beeinflussten Musik, Politik und das Leben zahlreicher Menschen.

Doch nicht nur die Zustände in Amerika wurden als bedrückend empfunden, der Zustand der Menschheit insgesamt war kein guter. Zwei Weltkriege, einer verheerender als der andere, hatten die westeuropäischen Länder in konservativ-reaktionären Gesellschaftssystemen stranden lassen. Die kriegsbeschädigten Sozialstrukturen in Gesellschaft und Familien waren einer glücklichen Kindheit und Jugend nur wenig förderlich. In den Ländern Osteuropas und in der Sowjetunion befand sich die Bevölkerung in einem totalitären System hinter einem Eisernen Vorhang eingesperrt. Große Teile der Erdkugel bedeckten Entwicklungsländer mit Hunger, Armut und feudalen Lebensbedingungen.

So ist es nicht überraschend, daß in den westlichen Gesellschaften zu Anfang der Sechziger höchst unterschiedliche Wahrnehmungen von Realität und Gegenwart aufeinanderprallen. Die Älteren klammerten sich mehrheitlich an den Status quo, weil er besser war als der Weltkrieg, den sie erlebt hatten, viele Jüngere dagegen waren unzufrieden mit der Realität, in die sie hineingeboren waren. Sie träumten von Fortschritt und einer humaneren Welt ohne Rassenprobleme und Kaltem Krieg. Damit waren die Grundmuster der gesellschaftlichen Konflikte angelegt. Ein Clash der Generationen sollte folgen, der sich im Verlauf des Jahrzehnts zu einer Jugendrevolte und einem Krieg der Generationen entwickelte.

Über den Begriff Krieg der Generationen mag man kontrovers denken. Ohne Frage waren die heftigen sozialen Umwälzungen der 1960er kein Krieg im herkömmlichen Sinne, so wie auch die Kriege der Gegenwart zur Unterwerfung von Menschen, Ländern, Gesellschaften und Wirtschaftsordnungen längst nicht mehr mit Militär und Armeen ausgetragen werden. Doch versteht man unter Krieg im weiteren Sinne auch den schnellen und radikalen Sturz und die Verschiebung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und Wertesystemen dann erscheint mir diese Metapher angemessen. In den 1960ern marschierten keine Soldaten und es gab nur wenige Tote. Kein Mastermind und keine Feldherren erteilten Befehle, klare Fronten existierten nicht. Doch unübersehbar endete ein Zeitalter und ein neues begann.

Die Metapher vom Krieg der Generationen ist eine bewusste Zuspitzung, um eine Beschreibung der gesellschaftlichen Entwicklung der 1960er unter einem zusammenhängenden Blick zu ermöglichen, der von den frühen Vorboten bis zu den heutigen Nachwirkungen reicht. Heftige Auseinandersetzungen um zivilisatorischen Fortschritt gibt es seit Anbeginn, sie machen die menschliche Evolution aus, die nicht nur biologisch erfolgt, sondern auch gesellschaftlich, politisch und sozial. Doch nie zuvor wurden Auseinandersetzungen um die Zukunft so global und grundsätzlich, so umfassend und so intensiv geführt wie in dem Jahrzehnt der 1960er.

 Zitate 6: Meine Reise mit Bob

Als Bob 1961 Greenwich Village erreichte, feierte ich meinen zehnten Geburtstag. Meine Kindheit und Jugend verbrachte ich Hamburger Stadtteil Horn, in einer unglücklichen Familie, die in Not und Elend lebte, so wie die Mehrheit der Deutschen in der Zeit zwischen Kriegsende und den Wirtschaftswunderjahren. ….

In der Fernsehsendung Weltspiegel, damals eine der wenigen Möglichkeiten, für einige Augenblicke aus Deutschland herauszugucken, hatte ich mitbekommen, dass es im fernen Amerika eine Bürgerrechtsbewegung gab und sich im August 1963 mehr als eine Viertelmillion Menschen bei einem Marsch auf Washington für Arbeit, Freiheit und Bürgerrechte versammelt hatten. Es gab einen kurzen Ausschnitt aus der Rede von Martin Luther King, dazu einige Szenen von Bob Dylan und Joan Baez. Das fand ich spannend und ging danach wieder zum Fußball. Ohne die Bedeutung zu erahnen, die seine Songs für mich bekommen sollten, hatte Bob mein Leben betreten.

Schnell entdeckte ich auch Bob selbst, seine Platten The freewheelin’ […] und The times they are a-changin’. Es war, als würde mir jemand eine neue Welt zeigen und mich auffordern, sie zu erkunden. Die Zeiten ändern sich, da war es. Nun berauschten mich nicht nur seine Songs und die Texte, es war auch und vor allem seine Stimme, das Anklagende, Aggressive und Vorwurfsvolle, in dem ich mich verlor. Neuartige Einsichten und Gefühle tobten in mir, als sei ich unter Drogen gesetzt, als entdeckte ich Teile meines Gehirns, deren Existenz ich vorher nicht einmal geahnt hatte. Viele Monate hörte ich täglich seine Platten. Wer war dieser Typ, der mir das Leben erklären konnte? Woher wusste er, was ich dachte, was ich fühlte, wohin ich wollte, wie die Welt sein sollte? Wieso konnte er aussprechen, was mir nicht gelang?

There was music in the cafes at night and revolution in the air.[10] Politische Aktivitäten wurden zum Lebensinhalt meiner letzten Schuljahre am Gymnasium. Was gab es Wichtigeres, als nach Freiheit zu suchen und für Utopien zu kämpfen? Es war 1968, das Jahr des globalen Protests. Gegen die Verhältnisse, gegen den Mist und Müll, der mich in meinem Zuhause umgab und die Welt bevölkerte. Gegen Atombomben, den Kalten Krieg und gegen schmutzige Politiker. Gegen die Nazischeiße unserer Väter und die vertuschte Vergangenheit meines Vaterlands. Trau keinem über dreißig. Fighting for peace is like fucking for virginity. Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt. Macht kaputt, was euch kaputt macht. Ich war darin sehr konsequent.

….  Hannelore war anders als die Mädchen, die ich bisher kannte. Sie versprühte Musik, Tanz und Lebensfreude. Ihre Nächte verbrachte sie in den Clubs auf der Reeperbahn, dem Top Ten, dem Grünspan und den anderen, die im Rotlichtbezirk von St. Pauli lagen. Dort, wo Bob am 17. und 18. Oktober 2003 zwei tolle Konzerte in dem kleinen Club Docks auf der Reeperbahn spielte. Manchmal haben Hannelore und ich auch gevögelt. Es bedeutete nichts, gar nichts. In Hannelores Augen galt ich als unwichtiger und unbedarfter Junge am Rande. Sex war von ihr als freundliche Geste gemeint, als Service. Love ist just a four letter word, wie es in einem von Bobs Songs hieß.

Im zweiten Semester begann sie als Prostituierte im Club Amphore zu arbeiten, nahe den Landungsbrücken am Hafen. Es war ein Champagnerpuff, vergleichbar den Prominenten-Treffs der Gegenwart, allein die Bezahlung funktionierte auf eine andere Weise. Zuerst übte sie diese Tätigkeit nur nebenbei aus, später wurde sie zu ihrem einzigen Lebensinhalt. Offenbar verdiente Hannelore dabei recht gut, denn nach kurzer Zeit musste sie nicht mehr in einem winzigen Zimmer zur Untermiete wohnen, wo es strikt verboten war, mich oder andere Jungs über Nacht mitzubringen. Nun konnte sie sich eine eigene Wohnung leisten, sogar eine mit drei Zimmern. Später kaufte sie sich ein gebrauchtes Auto. Damit lebte sie materiell unter besseren Umständen als viele normale Familien.

Aus Neugier über ihre nächtliche Existenz habe ich mich eines Abends in die Amphore getraut, wenn auch mit Herz-klopfen. Für einen Jungen wie mich, mit beschränkter Lebens-erfahrung, war es ein völlig irrer Ort. Aber sogar dort klang Bob Dylans Like a rolling stone dröhnend aus den Boxen. Der Club lag am Wasser, dort wo es hinter der Davidstraße zur Elbe heruntergeht, nahe den später besetzten Häusern an der Hafenstraße. Drinnen gab es Tische, Sofas und Bänke. Das Herrengedeck Phallus, bestehend aus Bier und Doornkaat, kostete fünfundsiebzig Mark.

Zitate 7: Zurück in der Gegenwart

….  Im Sommer 1981 wurden zwei Bob-Dylan-Konzerte in der Open-Air Arena von Bad Segeberg bei Hamburg angekündigt. Mit Glück bekam ich Karten für beide Abende. Oft kehren meine Gedanken in die warme Sommernacht vor dem ersten Konzert zurück, die ich mit lovely Martina verbrachte. Immer wieder lief auf dem Plattenspieler Bobs At Budokan durch. Hätten wir uns getraut, hätten wir viele Jahrzehnte glücklich zusammengelebt.

Am nächsten Nachmittag fuhren wir beide mit einer kleinen Clique um meinen Soziologie-Professor zu Bobs Konzert. Wir freuten uns und waren aufgeregt wie kleine Kinder. Wild kochten bizarre Gerüchte, was aus ihm geworden sei. Er würde zwischen seinen Songs predigen oder mit dem Rücken zum Publikum singen. Es wurde eine großartige Show, eine unvergessliche Nacht mit zwanzigtausend Zuschauern. Am zweiten Abend ging ich mit meinem Schulfreund Bernd zu Bob. Von seinen vielen Auftritten, die ich mittlerweile gesehen habe, sind die warmen Nächte in Bad Segeberg herausragende Erinnerungen.

….  Während ich am 13. November 2017 diese Zeilen schreibe steht Bob Dylan auf Platz eins der UK Record Store Charts mit Trouble no more. The bootleg series 13. Zwei Abende vorher hat er in dem kleinen Städtchen Upper Darby in Pennsylvania das dreiundsiebzigste Konzert im Jahr 2017 gespielt. Vor fünfzig Jahren nahm er Don’t think twice auf. Längst wurden seine Songs und Texte zu Elementen unserer Kultur und unseres Lebens. How many roads must a man walk down, before you call him a man? Vernehmen wir diese Worte, dann wissen wir, ohne groß nachdenken zu müssen, es ist Bob Dylan, auch ohne Refrain und Musik, so selbstverständlich, wie wir den Eiffelturm, die Pyramiden oder das Gesicht von Albert Einstein erkennen können.

Im Oktober 2016 bekam Bob Dylan den Nobelpreis für Literatur verliehen. Die Auszeichnung erfolgte für seine poetischen Neuschaffungen in der großen amerikanischen Gesangstradition. Das Nobelkomitee erklärte im Rahmen seiner Würdigung, the music, the social commentary, the public performance all mattered. He’s a very interesting traditionalist, in a highly original way, not just the written tradition, but also the oral one; not just high literature, but also low literature.[11] Zum ersten Mal erhielt ein Songwriter diese bedeutendste aller literarischen Ehrungen. Wie immer bei seiner Person löste dieser Vorgang neben großer Begeisterung auch Kontroversen aus. Aber deutlich überwogen Zustimmung und Freude gegenüber kritischen Reaktionen. Manchen galt er als nicht literarisch genug, so als ob Songs keine Poesie seien. War nicht Suzanne von Leonard Cohen ein Gedicht, bevor er die Worte sang und sie unsterblich machte? Doch es erscheint nicht notwendig, die Preisverleihung oder gar ihn selbst zu verteidigen.

….  Es muss eine dunkle und kalte Nacht am Waterfront Congress Centre in Stockholm gewesen sein, wo Bob unter Ausschluss jeder Öffentlichkeit in einem kleinen Raum den Nobelpreis entgegennahm. Wahrscheinlich wehte ein eisiger Wind vom Klarabergsviadukten herüber. Es ist kurz nach Mitternacht. Im Backstagebereich des Waterfront […] warten die Mitglieder der Nobelakademie, angeführt von ihrer Vorsitzenden Sara Danius, bereits seit mehr als einer Stunde auf Bob Dylan. […] Derweil schleicht […] draußen eine Gestalt mit tief ins Gesicht gezogenem Hut durch den Nebel auf eben dieses Konzerthaus zu. Es ist Bob Dylan, der es wörtlich meint, wenn er sagt, er werde den Preis ohne [jede] Öffentlichkeit entgegennehmen.[12]

Der Nobelpreis würdigt Bob Dylans literarische Leistung. Doch stelle ich seine Auszeichnung in ihren historischen Kontext, erscheint sie mir, ein wenig jedenfalls, auch als eine Anerkennung der Jugend der 1960er und deren gesellschaftsverändernder Wirkung, die von seinem Werk und Leben nicht zu trennen ist. Und wer weiß, vielleicht war die Preisverleihung sogar als ein politisches Zeichen an die Welt gemeint, in Zeiten, in denen man täglich mehr an der demokratischen Staatsform verzweifeln kann, wenn Wahlen sich immer öfter als Entscheidung zwischen Pest und Cholera herausstellen, mit denen gleichermaßen der Weg in eine falsche Richtung fortgesetzt wird. Nicht nur in Amerika.

Zunehmend fühle ich mich ähnlich zornig wie mit siebzehn, als ich Dylans Songs kennenlernte und mich in sie verliebte. Mein Blick ist der eines Kindes der 1960er geblieben, getragen von Begeisterung für Träume und abgrundtiefer Skepsis gegenüber der Realität. Die Gegenwart betrachte ich pessimistisch, vermutlich nicht als Einziger. Every moment of existence seems like some dirty trick. Happiness can come suddenly and leave just as quick. Any minute of the day the bubble can burst.[13] Besser als Bob könnte ich es nicht ausdrücken.

[1] Lyrics: Bob Dylan, Only a pawn in their game

[2] Nach: Bob Dylan. Eyes on the Prize, Documentary. YouTube. Ohne Jahr. www.youtube.com/watch?v=XUcyUoIFW04

[3] www.needsomefun.net/bob-dylan-s-footsteps-hibbing-part-2/5/

[4] Gray, Michael. The Bob Dylan Encyclopedia. S. 305.

[5] Zitiert nach: No Direction Home, zweiteiliger Dokumentarfilm. Regie:

Martin Scorsese. 2005.

[6] Lyrics: Bob Dylan, A hard rain’s a-gonna fall

[7] https://en.wikipedia.org/wiki/Doomsday_Clock

[8] Abrufbar unter: www.youtube.com/watch?v=SDkcbipclDQ

[9] Lyrics: Bob Dylan, A hard rain’s a-gonna fall

[10] Lyrics: Bob Dylan, Tangled up in blue

[11] Martin Grossman: But is it Literature? Bob Dylan and the Nobel Prize. 25.10.2016. https://www.rockerteeshirts.com/blogs/rockers-blog/music-industry-news

[12] Fabian Jonas: Knockin’ on Kevin’s Door. In: Die ZEIT. 01.04.2017. www.zeit.de/kultur/literatur/2017-04/bob-dylan-literaturnobelpreis-‌uebergabe-stockholm-dramolett

[13] Lyrics: Bob Dylan, Sugar baby

 

Über das  Buch (Produktinformation)

Bob Dylan ist nicht nur Songwriter, Musiker und Nobelpreisträger, sondern auch Kopf und Stimme der politischen und sozialen Unruhe der Jüngeren in den1960ern, die das menschliche Zusammenleben bis in die Gegenwart verändert hat. Das Jahrzehnt war ein Krieg der Generationen um gesellschaftlichen Fortschritt, Bürgerrechte, den Vietnam-Krieg, Sexualität und Demokratisierung.

Die Erzählung wirft einen Blick auf Bob Dylan und die Zeitgeschichte seines Daseins. Sie stellt seinen Lebensweg in Verbindung zu seiner gesellschaftlichen Bedeutung und zeigt die soziale und politische Dimension seiner Songs. Sie beschreibt, was er in den Köpfen seiner Generation bedeutet hat, deren Stimme er war, aber nie sein wollte. Meistens zumindest.

Über den Autor:

Michael Brenner wurde 1951 in Hamburg geboren und mit den Beatles, den Rolling Stones, Bob Dylan und der jugendlichen Revolte der späten 1960er erwachsen. Nichts beeinflusste ihn und seine Generation so sehr wie die verdrängte Schuld der Elterngeneration und die rebellischen sozialen Umwälzungen der Sechziger Jahre, die unsere Gesellschaft bis heute prägen. In seinen Büchern „KINDER DER VERLIERER Heimat Nachkriegszeit“ (2012, 2. überarbeitete Fassung, Verlag Books on Demand) sowie „NACHKRIEGSLAND“ (Verlag Ellert & Richter, 2015) hat er sich mit seiner familiären Biografie und dem westdeutschen Nachkriegsland auseinandergesetzt. Es sind bewegende Bücher, die Zeitgeschichte erlebbar machen. Seine persönlichen Erinnerungen stehen stellvertretend für die Hunderttausender. Im Juli 2018 hat Michael Brenner das Buch „LOOKING FOR BOB DYLAN, Bob Dylan & Zeitgeschichte, Vol I: Krieg der Generation“ herausgebracht. Es ist erhältlich als gedruckte Ausgabe bei Amazon und als Kindle ebook. Ein Blick auf den politischen Bob Dylan als Stimme seiner Generation. In dieser Erzählung werden Bob Dylan und sein Lebensweg mit seiner Zeit verknüpft. Dazu bringt der Autor seinen persönlichen Bezug zu Bob Dylan in den 1960ern und 70ern ein. Aktuell arbeitet Michael Brenner an einem Roman zum Thema „Terrorismus“.