Ostermontag. Frühstückstisch. Die Familie parliert. Gegen Ende schlage ich den SPIEGEL auf, der auf dem Küchentisch liegt, blättere darin und lese das Iggy Pop-Interview. Danach blättere ich die „LITERATUR“-Beilage des SPIEGEL, Ausgabe April 2016 durch. Schon auf der Titelseite freue ich mich auf das dort angekündigte Gedicht auf Seite 23. Als „… ein neues, alterssanftes Gedicht von Wolf Wondratschek, dem Rock-Poeten“ wird es angekündigt. „Gesang“ heisst es. Und ich lese es. Mehrmals. Ich spüre seinen Zauber. Den, den er immer vermochte mit Worten zu verbreiten. Und ich erinnere mich daran, dass er mein erster literarischer Held war. Gleich nach Karl May, Uderzo & Goscinni und Hermann Hesse. Ich gehe zu meinem Bücherschrank und blättere in meinen Lieblings-Wondtrascheks „Chucks Zimmer“ und „Früher begann der Tag mit einer Schusswunde“. Ich lese einige Gedichte, einige mehrmals. „Gesang“ hat heute nichts von dem verloren, was Wondratschek früher geschrieben hat. Der einzige Unterschied ist, dass die Auflagen von Wondtratscheks Bücher runtergegangen sind. Das sagte er mir schon vor zwanzig Jahren, als ich ihn kennenlernte, ihn auf Lesungen erlebte und ihn sogar einmal für den ROLLING STONE interviewte. Das ist wahrlich lange her. Die Lesung war angenehm, erinnere ich mich, das Interview weniger. Nein, ein Rock-Poet war er nie, das waren die Bob Dylans, Leonard Cohens, Lou Reeds und David Bowies. Lou Reed und David Bowie sind tot, denke ich mir. Leonard Cohen und Bob Dylan sind noch am Leben denke ich mir. Der letzte Gedanke ist schöner, dank Wondratscheks „Gesang“, der kein wirklicher ist, denn ein Rockpoet war er nie gewesen und wird er auch mit seinem „Gesang“ nicht, dafür aber einer der wohl wichtigsten Literaten Deutschlands der Populären Kultur. Ja, das ist er. Ein Literat der deutschen populären Kultur, aber ein Rockpoet nicht. Würde er ein Instrument beherrschen, hätte er der Lou Reed der deutschen Sprache werden können. Hatte er aber nicht und wurde er nicht. Wondratscheks „Gesang“ findet stumm statt. Eine Kunst, die Lou Reed nie beherrschte. Danke, dass ich dieser Kunst heute am Ostermontag am Frühstückstisch beiwohnen durfte. Ich schaue mal, wie lange ich brauche, um mein ROLLING STONE-Interview mit Wolf Wondratschek in meinem Archiv zu finden.
Der Artikel über eine Lesung Wondratscheks in DIE RHEINPFALZ war schneller zu finden. Er war zusammengefaltet im Buch „Früher begann der Tag mit einer Schusswunde“.