„Selbstbild mit einer achtjährigen“
oder von einem jungen Dichter, der nie alt wurde, als er alt war
Oder
Weiß der Zufall, was er will?
Oder
Begannen früher die Tage wirklich mit einer Schußwunde?
Überschriften wie diese, überlegte ich mir ganz viele am Donnerstag, 11. Oktober 2018 in Frankfurt a.M., im Wintergarten des Hessischen Hofes, in einem sogenannten „Grandhotel im klassischen Stil“. Es ist fünf Minuten nach 18.00 Uhr. Knapp 50 Leute scheinen eine „sogenannte“ persönliche Einladung zu einem „kleinen Empfang mit Wolf Wondratschek auf der Frankfurter Buchmesse“ zu haben. Diese 50 drängen sich in das kleine gläserne Foyer namens Wintergarten. „Wolf Wondratschek und unsere Verlagsleitung …. dann folgen die Namen der Verleger … freuen sich auf das Gespräch mit Ihnen.“ – So steht es auf der Karte, die mir die Produktmanagerin seines neuen Buches „Selbstbild mit russischem Klavier“, am Nachmittag am Stand des Ullstein-Verlages gab. Ich fragte, ob denn auch wirklich ein Gespräch mit dem Autor möglich sei. „Vielleicht … “, sagte sie und fügte hinzu, „aber ich kann nichts versprechen.“ Ich pflichtete mit einem wissenden Nicken bei, ohne daß ich es wirklich bestätigen könnte, oder es ihm gar vorwerfen könnte, wenn es denn wirklich so wäre, daß er für ein Gespräch nicht zur Verfügung stünde. Vor 21 Jahren führte ich mit ihm einmal ein Interview und dann noch einmal vor 17 Jahren. Zuvor las ich all seine Bücher und verliebte mich in sie. Am meisten verliebte ich mich in sein Buch „Chucks Zimmer“ aus dem Jahr 1974, das sich 300.000 Mal verkauft hat. Ich las es erst so um 1978, in dem Sommer, als Bob Dylan zum ersten Mal deutschen Boden betrat. Ich las das Buch, als ich mit dem Zug nach Nürnberg fuhr, um zu einem meiner Hohe-Priester der Populären Kultur und dessen Open Air-Festival auf dem Nürnberger Zeppelinfeld zu pilgern.
Nach „Chucks Zimmer“ las ich „Früher begann der Tag mit einer Schusswunde“, den Wolf Wondratschek (75) schon 1969 herausbrachte. Da war ich sechs und er Mitte Zwanzig. Ich verliebte mich in seinen Erstling und von da an in alles, was er je schrieb. Weitere Bücher, wie z.B. „Carmen oder bin ich das Arschloch der 8oer Jahre“, die Kelly-Briefe oder Reise-Reportagen und Geschichten über Boxer. Ich liebte jedes Wort, jeden Satz, jede Geschichte von ihm. Ich liebe sogar seine – wie ich vermute von ihm selbst verfasste Rezension bei Amazon über sein eigenes Buch, verfasst als „Weh Weh“. Jetzt hat er also mit „Selbstbild mit russischem Klavier“ wieder etwas Neues geschrieben. Eine Art Vorwort ist eine Frage: „Weiß der Zufall, was er will?“ Ich bin – natürlich – davon begeistert.
Ich las ihn an dem Tag, als mir jemand erzählte, das sein Leben durch „Zufall“ bestimmt ist, daß Leben immer durch Zufall bestimmt ist. Ich erwiderte darauf nur, nein, Leben ist System. Beim Lesen von Wondratscheks Frage fühlte ich mich an das Gespräch erinnert. Eine schöne Erinnerung, die noch immer nachklingt.
Zu Zeiten seiner einstigen großen Erfolge nannten sie Wondratschek einen „nahezu klassischen Feingeist“, aber auch „Berufsrebell“ oder gar „Hurendichter“. „Hurendichter“ aber nur, weil er damals, in den 80er Jahren ein „kreatives Verhältnis“ mit „Domenica“, der wohl bekanntesten Domina Deutschlands pflegte und regelmäßig auf der Hamburger Reeperbahn verkehrte.
Erinnerungen, die ebenso nachklingen, sind meine Erinnerungen an meine Gespräche mit Wolf Wondratschek. Die Erinnerungen wurden wach, als die Produktmanagerin von Ullstein meinte: „Wissen Sie, Herr Wondratschek ist nicht immer ganz einfach im Umgang und auch nicht immer für Interviews zu haben“, sagte Sie fast sich für dieses Verhalten entschuldigend. Verleger brauchen aber solche Interviews. Autoren eigentlich auch. „Weh Weh“ scheint sie nicht zu brauchen, zumindest nicht zu mögen. Sie sind gut fürs Marketing und den Verkauf der Bücher. Aber dem Autor ist das, glaub ich, egal. Ich glaube sogar, Wondratschek ist vieles egal. Ich glaube, er sieht Dinge anders. Schließlich schreibt er auch anders. Anders als andere. Besser. Und wer o etwas kann, darf Dinge eben auch anders sehen. Äußerungen seines Verlegers, der den „Gesprächsabend“ mit den Worten eröffnet, „lieber Wolf Wondratschek, ich freue mich, daß wir heute in diesem „Grandhotel“, und wir wissen alle, wie sehr Sie Hotels lieben, und daß Sie schon oft in diesem Grandhotel gewohnt haben, diesen Gesprächsabend mit Ihnen gemeinsam eröffnen können.“
Nachdem die kurzen Begrüßungsworte schnell gesprochen waren, und sich tatsächlich alle auf ein Gespräch mit Wondratschek freuten, meinte meine Stehtischgesprächspartnerin, eine Frankfurter Literaturkritikerin nur, „ich glaube nicht, daß er „Gespräche“ führen wird. Das tut er nicht wirklich gerne, er führt keine Gespräche, er hört sich selbst beim Reden zu. Das ist alles. Dieses Jahr hat man für ihn in Berlin zum 75. Geburtstag eine Festivität veranstaltet. Auf der Einladungskarte stand: „Eigentlich ist er unerträglich“. – „Das ist ein Zitat von dem Filmemacher Peter Berling, der hat das mal über ihn gesagt“, berichtet die Literaturkritikerin über ein Interview, das er mal beim Deutschlandradio gab und das auch bestätigte. „Er kann verdammt gut schreiben – aber eigentlich ist er unerträglich. Ich kann das unterschreiben, ja. Ich verstehe, dass die Leute auf mich so reagieren“, erklärte Wondratschek in der Sendung, und wie gerne er ungefällig ist, wie gerne er ernst sei.“ – Ich meinte nur, dass ich das auch unterschreiben könnte. Meine Interviews mit ihm, waren auch nicht einfach, kurzum, er hätte sie am liebsten selbst mit sich geführt und sich am besten noch mal selbst zur Korrektur vorlegen lassen, um selbst Korrekturen und Ergänzungen vorzunehmen, bevor er selbst, die Freigabe nach mehrmaligem Vorlegen und weiteren Korrekturen, ungeachtet der Einhaltung jeglicher Deadlines, zu geben gewillt gewesen wäre? Warum spreche ich im Konjunktiv? Genauso war es damals. Aber egal…“, sage ich zu der Literaturkritikerin und ergänze: „Ah, jetzt spricht der Schriftsteller auch noch ein paar Worte….“ Es war 18.07 Uhr. Die Worte waren „Ich danke Ihnen und meinen Verleger….aber das hier ist gar kein „Grandhotel“, was ich dem Concierge beim Eintreffen auch schon mitteilte und ich habe noch nie im Hessischen Hof gewohnt…“. Ich schaue die Literaturkritikerin an, sie schmunzelt, ich schmunzele. In Berlin sagte er einmal „Ich stehe auf, wenn es mir nicht mehr gefällt, wenn es mich langweilt“, meinte die Literaturkritikerin.
Ich drängte mich durch die Häppchenjäger und Sektglashalter und fragte zunächst, die Produktmanagerin, ob ein Gespräch mit Wondratschek möglich sei. Sie meinte: „Wenn es sich ergibt.“ Dann sprach ich mit dem Verleger. Der meinte: „Ja, sicher, wenn es sich ergibt.“ Dann ging ich mit dem „Selbstbild mit russischem Klavier“ in der Hand zu Wondratschek, sagte Guten Abend, gratulierte zum Buch und …. Er nahm mir das Buch ab, schlug den Einband auf, holte wie auf Bestellung einen Kugelschreiber aus seiner gestreiften Blazerjacke, die übrigens gut zum Bucheinband passte, und signierte das Buch. Ich sagte nur, ich wolle gar kein Autogramm und scherzte, jetzt fehle nur noch ein „Selfie“ und Wondratschek meinte: „Nein, das mache ich nicht.“ – Ich sagte: „Danke.“ Wondratschek ging zu einem Freund, wechselte, hier und da ein paar Worte, wurde vom Verleger Geschäftsfreunden vorgestellt….und ich stand da mit einem von Wondratschek signierten „Selbstbild mit russischem Klavier“ und ging zurück an den Stehtisch mit der Literaturkritikerin.
Plötzlich stand meine achtjährige Tochter neben mir, zupfte an meiner Anzugsjacke und sagte: „Papa, was ist das für ein Buch?“ – Ich sagte völlig überrascht über Ihre plötzliche Anwesenheit: „Was machst Du denn hier?“ – Sie sagte: „Ich wollte nicht mehr draußen bei den anderen warten und suchte nach Dir. Also, was ist das für ein Buch, das du da hast?“ – Ich sagte: „Das ist von dem Mann da vorne in dem gestreiften Sacko. Ich liebe seine Worte, seine Sprache und wollte eigentlich ein Gespräch mit ihm führen, aber ich glaube, dafür ist er eigentlich gar nicht wirklich hier.“ Meine Tochter sagte nur: „Soll ich ich mal fragen?“ – Und schon war sie die fünf Meter auf dem Weg zu Wondratschek, zupfte an seinem Sacko und wollte etwas fragen… Wondratschek stellte sein Rotweinglas auf einen der Stehtische, viele und viele ältere Menschen sahen verwundert zu, wie ein achtjähriger Mensch in diesem achso ehrwürdigen „Grandhotel“ den „Grandseigneur der Worte“ wagte, anzusprechen. Wondratschek sah zu mir rüber und fragte: „Ihre Tochter?“ – Ich sagte „ja“, zückte mein Smartphone, worauf er in die Knie ging, sich zu ihr beugte, und für ein „Selbstbild mit Wondratschek“ zur Verfügung stand. Es war 18.37 Uhr. Nach dem Foto verließen wir das Grandhotel. Wondratschek stand draußen am Taxi-Stand und rauchte eine Zigarette. Wir gingen an ihm wortlos, natürlich ohne Gespräch aber mit „Selbstbild mit meiner Tochter“ in ein wirkliches Frankfurter Grandhotel. Meine Tochter trug das signierte Buch und fragte mich. „Papa, kann man Gott zum Lachen bringen?“ Ich sagte „ja“ und meinte nur: „Das wollte ich den Mann, der das Buch geschrieben hat, auch fragen.
P.S.: Auszug eines Gespräches mit Wondratschek aus dem Jahre 2001.